Das Mittelalter: die Macht der zwei Schwerter
„Zwei Schwerter gab Gott auf das Erdenreich, um die Christenheit zu beschirmen. Dem Papst ist das geistliche bestimmt, dem Kaiser das weltliche“ (BPB, S. 29). Die Richtung war bestimmt. Fortan dürften Kirche und Kaiser im Regnum Teutonicum, dem deutschen Reich, die Regie auch in motivationaler Hinsicht geführt haben. Alles Wirken hatte sich an den jeweiligen Herrschern zu orientieren.
Die Motivation der Menschen im Mittelalter mag durch eben jene Zweiteilung maßgeblich mitbestimmt gewesen sein. Sie zu erforschen, wäre ein spannendes, aber ebenso gewaltiges Unterfangen. Auch wenn uns die genauen Motive weitgehend verborgen sind, phänomenal erscheinen viele Handlungen und Ereignisse zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert dennoch.
Da wäre zum Beispiel jener „Höllentrip“ Heinrichs IV (vgl. BPB, S. 42) im Dezember 1076 und Januar 1077 nach Oberitalien; später, den Umständen in keiner Weise entsprechend, lediglich als „Gang“ (nach Canossa) bezeichnet. Es galt, um Vergebung zu bitten, die eigene Exkommunikation aufheben zu lassen – und das Königreich der Salier zu erhalten. Was für ein Akt, wochenlang mit seinem Gefolge den gefährlichen „Gang“ über die verschneiten Alpen zu wagen und drei Tage in Eiseskälte barfuß und kniend vor Papst Gregors II. Burg um Einlass zu bitten. Dem Streit um die Einsetzung von Bischöfen und Äbten (Investitur) sollte das dennoch und vielleicht gerade deshalb nicht beenden.
Oder die aus motivationaler Sicht phänomenale Reaktion der Bevölkerung auf die Rede Papst Urban II (vgl. Lütz, S. 72 ff.). Da soll, was nicht unumstritten ist, die Menge „Deus lo vult“, „Gott will es“, skandiert haben – möglicherweise einer der besten Werbe-Slogans in der deutschen Geschichte. Denn in dessen Folge verließen tausende Menschen 1095 Haus, Hof und Familie, um Jerusalem von den Muslimen zu befreien – was 1099 tatsächlich gelang, aber zwei Dritteln der Kreuzfahrer Bekanntschaft mit dem Jenseits machen ließ. Und das alles, zumindest von offizieller Seite, für das Versprechen auf Ablass, womit wir möglicherweise schon wieder bei der Angst vor Strafe als Motiv wären. Dafür aber mit einem der ersten belegten Akte von Corporate Identity – heute für die Motivation von Millionen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weithin anerkannt – indem ein großes Kreuz die Kleidung der Krieger Gottes zierte.
Doch das Mittelalter hat im Hinblick auf die Motivation der Menschen noch weit mehr zu bieten: Was hat diese beispielsweise in Florenz Anfang des 12. Jahrhunderts bewegt, die ersten Banken zu eröffnen. Was trieb Gelehrte in Parma, Bologna, Paris oder Oxford im 11. und 12. Jahrhundert an, die ersten Universitäten zu gründen (vgl. BPB, S. 74)? Der Glaube an Gott, die Furcht vor dem Fegefeuer allein? Wohl kaum – oder etwa doch?
Dazu wäre spannend zu erfahren, welche Motive zur Erfindungen führten, wie etwa die der Brille, des Buchdrucks, des Spinnrades oder – Bauarbeiter und Hobbygärtner aufgepasst – der Schubkarre (vgl. Wallbruch). Auch hier sei die Frage gestattet, wie viel die Aussicht auf Gottes Lohn dazu beigetragen hat.
Reformation und Renaissance: Himmel und Hölle
Es werden nicht die einzigen gewesen sein, aber das Streben nach dem ewigen Leben und die Angst, in den Flammen der Hölle zu enden, dürften wesentliche Triebfedern des Handelns dargestellt haben (vgl. van Doren, S.141 ff.). Auffällig nur, dass ein jeder es für seine Zwecke zu nutzen gedachte: Ablassprediger wie der Dominikanermönch Johann Tetzel (um 1460 – 1519), der den Gläubigen damit eine Art Vollkasko-Versicherung gegen das Fegefeuer verkaufte, genau wie sein Gegenspieler Martin Luther (1483 – 1546), der den Ablasshandel als Betrug brandmarkte (vgl. Kaufmann, S. 108 ff.) , weil sie eine erfundene Vergebung sei; Vergebung könne jemand nur durch die Gabe von Evangelium und Sakramenten erfahren (vgl. Scheible, S. 300 ff.). Es blieb noch lange dabei, Strafen der Kirche für begangene Sünden konnten durch Almosen getilgt werden – ein heute noch üblicher Deal, wenn die Kirche auch nur noch selten Strafen ausspricht.
Philipp Melanchthon (1497 – 1560), Weggefährte Luthers, auch der Lehrer Deutschlands genannt, beschrieb das Elend seiner Standesgenossen in „Über die Leiden der Lehrer“ und hob bei der Motivation der Schüler*innen ganz auf die Heilige Schrift und die Moral ab: „Denn Gott will, dass die Gebote der Eltern wie seine eigenen befolgt werden“ (Melanchthon, S. 43). Und ergänzte mit der Mahnung: „Wenn Ihr daher wollt, dass Gott euch die gesamte Zeit eures Lebens Glück und Segen spende, so gebt euch Mühe wiederum das zu leisten, was jener von Euch verlangt“ (Melanchthon, S. 43). Andererseits dürfte er, angesichts der düsteren Beschreibung des Alltags als Lehrer, über ein gehöriges Maß an intrinsischer Motivation, basierend auf einem tief verwurzelten Glauben, verfügt haben (vgl. Scheible, S. 294 ff.).
Schwer zu glauben, dass Gottesfurcht allein tausende in die Arme von Heerführern getrieben hat. Vielfach dürften finanzielle Anreize die Antreiber gewesen sein, ebenso wie Druck vonseiten der Herrschenden, die Auflehnung dagegen oder wirtschaftliche Not, wie etwa im Falle der Bauernführer Hans Müller von Bulgenbach, Balthasar Hubmaier (vgl. BPB, S. 95 ff.), und Thomas Müntzer (vgl. Kaufmann, S. 161 ff., und Scheible, S. 95 ff.). Die motivierten ihre Kämpfer aber dennoch mit der Aussicht auf das Ende von Ausbeutung. Dazu priesen sie sie, welche Ehre und damit extrinsische Motivation, als von Gott als Werkzeug Auserwählte, jenes Ende herbeizuführen.
Christoph Kolumbus (um 1451 – 1506) zum Beispiel bot den Plan der Westroute nach Indien und China zunächst Johann II, König von Portugal, an (vgl. Harenberg, S. 1619 f.). Als dieser ablehnte, floh er mehr oder weniger nach Spanien, wohl auch um seinen Gläubigern zu entkommen – eine, Aristippos lässt Grüßen, Flucht vor Schmerz und Leid. Aber auch dort wurden seine Pläne nicht gleich mit höchster Priorität behandelt. Kolumbus stellte hohe Forderungen und spielte Frankreich, Portugal und Spanien gegeneinander aus, die sich Ansehen und wirtschaftliche Prosperität versprochen haben dürften, als sie sein Angebot prüften. Die Aussicht auf Ämter und Anteile an den verkauften Gütern dürften Kolumbus neben einer guten Portion intrinsischer Motivation auch auf externe Weise beflügelt haben.
Die Motivation ließe sich noch anhand vieler Beispiele ergründen. Ein Blick auf das Zeitalter der Renaissance würde das noch verstärken (vgl. van Doren, S. 174 ff.): Wissenschaft und Bildung, Kunst, Menschenbild, Technik, all dies wurde von hoch motivierten Menschen in jeder Epoche beflügelt. Neugier, Kreativität und Forschergeist dürften die Basis für die Entwicklung gebildet haben. Eine ausgearbeitete Theorie hat es, bis auf die stark auf den Glauben zurück gehende, wohl nicht gegeben. Dennoch finden sich auch damals schon, wie sollte es auch anders ein, viele Aspekte wieder, die im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts ihr Fundament bekamen.
Literaturverzeichnis
- Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) mit den Autoren Engehausen, Frank / Jankrift, Kay Peter / Erbe, Michael / Leonhard, Jörn / Metzler, Gabriele / Schiersner, Dietmar / Schildt, Axel / Thamer, Hans-Ulrich / Mühlhausen, Walter: Meilensteine der deutschen Geschichte. Von der Antike bis heute. Lizenzausgabe (lizenziert durch Duden, Bibliographisches Institut GmbH, Berlin). Bonn: Duden, 2015.
- Doren, Charles von: Das Universalwissen der Menschheit. Von der Antike bis zur Gegenwart. Erftstadt: Area, 2005.
- Harenberg Lexikon Verlag: Harenberg Kompaktlexikon in 5 Bänden. Dortmund: Harenberg, 1994.
- Kaufmann, Thomas: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation. München: C. H. Beck, 2016.
- Lütz, Manfred (unter Mitarbeit von Angenendt, Arnold): Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums. Freiburg im Breisgau: Herder, 2018.
- Melanchthon, Philipp. Über die Leiden der Lehrer. Stuttgart: Reclam, 2015.
- Scheible, Heinz: Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2016.
- Wallbruch, Annette: Erfindungen im Mittelalter, in: leben-im-mittelalter.net, 16.11.2020, https://www.leben-im-mittelalter.net/kultur-im-mittelalter/erfindungen.html, letzter Zugriff 16.11.2020.
von Frank Rogalski